Blasmusik-Boom bei jungen Menschen: „Es geht umviel mehr als nur die Musik“ 

Im Keller eines Kindergartens in Illertissen stehen etwa 40 Stühle im Halbkreis. Auf dem Programm an diesem Abend steht „Russian Christmas Music“. „Wir starten bei Takt 166, aufgeht’s“, sagt der Dirigent der Stadtkapelle, David Schöpf, und macht sich bereit. Er zählt ein, ganz hinten fängt die Tuba an, langsam steigert sich die Intensität der Musik. Die Trompeten werden lauter, dann kommen die Flöten und Saxofone dazu. Kurz nachdem die Pauke einsetzt und das Crescendo den Höhepunkt erreicht, bricht Schöpf ab: „Viel besser als letzte Woche, viel besser“, sagt er, „ein paar Wenigkeiten fehlen mir aber noch.“ Der Dirigent bemängelt Kleinigkeiten, die mit bloßem Ohr fast unmöglich herauszuhören scheinen: Die Posaunen hätten ihren Einsatz um ein Haar verpasst und die Trompeten solle man bitte erneut stimmen, „das passt nicht zu hundert Prozent“. Besonders ist der Dirigent nicht nur wegenseiner Expertise und seines musikalischen Gehörs, das ihm hilft, jede Kleinigkeit herauszuhören. David Schöpf ist mit seinen 24 Jahren einer der jüngsten Blasmusikkapellen-Leiter in Schwaben, vielleicht in ganz Süddeutschland, und steht dabei für Blasmusik, die bei jungen Menschen nie aus der Zeit gefallen ist.

Schöpf, der Blasorchesterleitung in Augsburg im Master studiert, ist mit den Musikerinnen und Musikern der Stadtkapelle Illertissen auf einer Wellenlänge: Die Sprüche zwischen den Anweisungen kommen nicht zu kurz, trotzdem bleibt es bei den Proben sachlich, die Kapelle hat sich schließlich auf ein Weihnachtskonzert Anfang Dezember vorzubereiten. Den Draht zu „seinen“ Musikerinnen und Musikern hat Schöpf auch, weil viele von ihnen in einem ähnlichen Alter wie er sind. „Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass derAltersdurchschnitt sicherlich unter 40 liegt, vielleicht sogar unter 30“, sagt Schöpf. Zu dieser Probe sind etwa 35 Musizierende gekommen, die meisten von ihnen sind weiblich und jung. Blaskapelle? Junge Menschen? Wie passt das zusammen? 

Blasmusik liegt bei der jungen Generation im Trend 

Dass Blasmusik weiterhin so viel Aufmerksamkeit von jungen Menschen bekommt, passt nicht ganz in die aktuelle Zeit. Es ist eine Zeit, in der sich alles schnell abspielt, eine Zeit, in der man schnell an alle Inhalte kommen kann und sich Jugendliche vermeintlich nur noch in digitalen Sphären aufhalten. Es ist eine Zeit, in der man mit der ganzen Welt in Kontakt bleiben kann, ohne die eigenen vier Wände zu verlassen. Eine Zeit, in der Trends von kurzer Dauer sind, sich höchstens ein paar Wochen halten. Das überträgt sich auch auf die Gestaltung der Freizeit. Klavier, Fußball, Ballett, Tennis oder doch vor der Konsole zocken: Die Frage ist nicht, welches Hobby man hat und womit man die Zeit nach der Schule füllt. Die Frage ist eher, was man, die nebenschulischen Möglichkeiten scheinen schier endlos, nicht macht.

Hannah kann sich ein Leben ohne Blasmusik nicht mehr vorstellen. In ihrem goldenen Saxofon spiegelt sich das Bild der jungen Frau mit langen, dunklen Haaren und einer Brille mit goldenem Rand. Die 17-Jährige macht seit vier Jahren Blasmusik, seit anderthalb Jahren ist sie Teil der Illertisser Truppe. Zudem ist sie auch in ihrem Heimatverein aktiv, nimmt noch ein Mal die Woche Unterricht und spielt in einem Bläser-Quartett. Die Musik nehme ihre gesamte Freizeit ein, sagt sie, als sie vor der Probe ihr Instrument minutiös zusammenschraubt. „Angefangen habe ich, es klingt sehr langweilig, weil alle meine Freunde auch Blasmusik machen.“ Selbst auf ihre berufliche Zukunftnimmt das Hobby Einfluss: „Ich würde gerne Notfall-Sanitäterin werden. Das lässt sich aber nicht mit den Proben vereinbaren.“ Ihr jetziger Job als Arzthelferin bietet mehr Freizeit, abends hat sie meistens frei. Aus verschiedenen Gründen möchte sie den Beruf jedoch nicht länger ausüben – sie steckt in einem Dilemma: Wenn die Blasmusik wegfallen sollte, fürchtet Hannah Konsequenzen für ihre mentale Gesundheit. „Hier geht es um mehr, als nur um die Musik.“ Man treffe sich nach der Probe zum Ratschen, ihr gesamter Freundeskreis sei in der Blasmusik verankert, sagt sie.

100.000 Besucherinnen und Besucher waren diesen Sommer beim „Woodstock der Blasmusik“ 

Das vermeintlich allgegenwärtige Bild der trendbehafteten Jugend gerät ins Wanken, wenn man in die jungen Gesichter eines Blasmusikorchesters wie in Illertissen blickt. Es ist ein Saal mit jungen Menschen, die sich Zeit nehmen. Junge Menschen, die gemeinsam ihren Teil dazu beitragen, dass die gespielten Lieder stimmig sind. Alle sind Teil der Gruppe, auf keinen kann und möchte man verzichten. Keiner „chillt am Handy“, keiner lebt in einer Online-Bubble. Einmal pro Woche kommen sie zum Proben zusammen, in der echten Welt. Im Sommerspielen sie fast jedes Wochenende ein Konzert, fahren zweimal im Jahr für ein Probenwochenende zusammen weg. Zudem steht für viele von ihnen jedes Jahr im Sommer ein ganz spezieller Höhepunkt an: das „Woodstock der Blasmusik“. Rund 100.000 Feiernde kamen im Sommer dieses Jahres nach Österreich, um auf einem der größten Open-Air-Festivals Europas ihre Liebe für die Blasmusik zu teilen. Zu Rock am Ring? Kamen nur 70.000 Fans. Und auch andere Rock-Festival-Größen wie Wacken verbuchten „nur“ 85.000 Besucherinnen und Besucher.

Auch für den Allgäu-Schwäbischen Musikbund (ASM) sind solche Festivals enorm wichtig. Der Verein präsentiert sich dort, macht auf sich aufmerksam. 645 Musikvereine mit rund 950 Ensembles und Orchestern und damit insgesamt 86.000 aktive und passive Mitgliedergehören zum ASM, dessen Präsident Franz Josef Pschierer ist. Fast dreißig Jahre lang saß der 68-Jährige im Bayerischen Landtag, lange für die CSU, zuletzt wechselte er zur FDP. In seiner Freizeit spielt Pschierer Posaune und Klavier. Der Blasmusik ist er immer treu geblieben, seitdem er im Alter von 15 Jahren zum ersten Mal einer Kapelle beigetreten ist. Pschierer, seit 2003 Präsident des ASM, ist ein Mann, der für Blasmusik brennt, das merkt man sofort. Früher, in seiner Jugend, habe er sich zwischen Fußball- und Posaunespielen entscheiden müssen. Heute blickt er auf diese Entscheidung zurück und sagt: „Es war die Richtige.“

Der Allgäu-Schwäbische Musikbund zählt 39.000 aktive Mitglieder 

Vor einer ähnlichen Entscheidung, wie er sie damals treffen musste, stünden heute viele Jugendliche. Viele entscheiden wie er, viele treten dem ASM bei. Genau gesagt sind es rund 39.000 aktive Mitglieder, knapp die Hälfte davon seien Frauen, berichtet Pschierer im Gespräch. Spannend zudem ist die Anzahl der Jugendlichen beim ASM: „Etwa 36 Prozent unserer Mitglieder sind unter 18 Jahre alt.“ Das sei ungewöhnlich für Vereine abseits des Sports: „Das Durchschnittsalter von Blasmusik-Kapellen, die dem ASM angehören, liegt bei 28 Jahren.“ Stolz berichtet er von dem „Boom“ der Blasmusik bei den jungen Menschen. Dieses konstante Interesse habe sich nur gehalten, „weil sich die Blasmusik-Szene geöffnet hat“. Früher: Polka, Walzer, Marsch. Heute: Jazz, Pop, Brass. Man habe sich angepasst, um den Jugendlichen mehr Anreize zu bieten, um Musik zu machen, die „abseits der traditionellen Blasmusik stattfindet“. Jedoch reiche eine Genre-Kehrtwende nicht aus, um die Jugendlichen zu halten: „Man muss mehr bieten, um die junge Generation für die Kapelle zu begeistern. Es geht dabei um Aktivitäten, wie einen Ausflug, ein Zeltlager oder einen Besuch bei Wettbewerben.“

Blasmusik ist bei den jungen Menschen in der Stadt nicht so beliebt wie auf dem Land 

Brians Instrument, die Tuba, ist kaum zu übersehen und überhören. Ruhig spielt er die tiefen Töne, meistens dienen sie nur der Begleitung. An diesem Novemberabend macht er alles richtig, kassiert ein Lob nach dem anderen von David Schöpf. Der 24-Jährige macht seit elf Jahren Blasmusik und sagt, er sei unter anderem wegen der Wettbewerbe dabei geblieben. „Es geht primär darum, zu sehen, wie weit man es mit der eigenen Gruppe schaffen kann.“Erfolge von anderen könnten genauso gut gefeiert werden wie die eigenen. Schon sein Urgroßvater habe Tuba in einem Orchester gespielt, sagt der Student. Aus seinem Freundeskreis sei er jedoch der Einzige, der blasmusikbegeistert sei. „Viele machen Sport, Fußball und so.“ Genauso wie Hannah sagt er, die Gemeinschaftmache die Kapelle aus. Ähnlich sieht es Dirigent David Schöpf. Über einen Bekannten ist er zum Trompetenspiele gekommen, danach zog es ihn das erste Mal in eine Kapelle und ließ ihn nicht mehr los. Heute dirigiert er vier Orchester, macht noch seinen Master in Augsburg und ist froh, von seiner Leidenschaftleben zu können: „Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht.“

Trotzdem, das räumt auch Franz Josef Pschierer ein, gelingt es dem ASM nicht ganz, die Blasmusik auch dem jungen Publikum in der Stadt nahezubringen. „Alles, wovon wir reden,ist ein ländliches Phänomen“, sagt der 68-Jährige. In der Stadt herrsche sicherlich großer Nachholbedarf, „die Auswahl ist dort schlichtweg zu groß“. Man werde versuchen, mehr Kapazitäten freizumachen, eine breitere Auswahl an Orchestern zu schaffen. Damit soll auch die Jugend in der Stadt zum Musizieren inspiriert werden. 

Sowohl bei Hannah als auch bei Brian hat das geklappt. Vieles in ihrem Leben dreht sich um die Musik. So sehr, dass sie sogar ihre beruflichen Entscheidungen nach ihrem Hobby richten.David Schöpf lebt hingegen von der Musik. „Ich lebe meinen Traum und möchte mehr junge Menschen dazu ermutigen, Dirigenten zu werden.“ Er habe das Glück gehabt, Vorbilder wie seinen damaligen Dirigenten und Lehrer Benjamin Markl und seinen jetzigen Professor Maurice Hamers zu haben, die den Weg für ihn geebnet haben. Nun möchte er dasselbe tun, für die vielen jungen Menschen, die auch so blasmusikbegeistert sind wie er.

Text: Nicolas Friese

Foto: Alexander Kaya